Sonntag, 12. Dezember 2010

Agora (3): „Kein Glasperlenspiel“ von Prof. Dr. Martin Balle

„Zukunft der Zeitung. Zeitung der Zukunft.“ Kein halbes Jahr nachdem die Akademie für Politische Bildung Tutzing bereits über „Medienumbrüche“ diskutiert hatte, brach man dieses Wochenende das Thema auf die Printpresse herunter und präsentierte mit Martin Balle, dem Verleger des „Straubinger Tagblatt“, einen Referenten, der quasi den Gegenentwurf zu Jochen Wegners sommerlichen 23 Thesen zur Zukunft der Medien vortrug. Gleich einem Don Alphonso der Old Media weckte Balles belesene, polemische, dem Bildungsbürgertum huldigende Replik bei mir erst einmal Widerspruch und Empörung, aber je länger ich ihm zuhörte, desto bedenkenswerter fand ich seinen Vortrag. Nicht, daß ich ihm zustimmen würde, aber Balle, der auch dem Vorstand des Bayerischen Verlegerverbands angehört, beleuchtete durchaus kritische Fragen der Produktion und Rezeption digitaler Inhalte. Einige Statements, etwa daß man sich online nicht mit Gedichten beschäftige oder die heile Welt des gedruckten Worts ein Gegengift zu den Bites und Byts sei, hatte ich live getwittert (Christian Jakubetz zitiert daraus in einem Blogeintrag). Leider gibt es nicht ein Manuskript des Gesamtvortrags, sondern mehrere Texte, aus denen er am Redepult eine Art Potpourri improvisierte. Die Passagen zum Thema Angst möchte er nicht online sehen, da er diese Ausführungen noch ein paar Mal vortragen will, dafür überließ er mir aber seine Festansprache anläßlich des 150-jährigen Jubiläums des „Straubinger Tagblatt“ zur Veröffentlichung. Hier die meines Erachtens in Tutzing benutzten Passagen. Der Gesamttext ist im Verlag Attenkofer erschienen.
Updates: Im Juni 2014 gehört Balle zu den Bietern für die insolvente Münchner „Abendzeitung“.
Am 17. Juni gibt der Insolvenzverwalter bekannt, daß Balle zusammen mit dem Münchner Anwalt und Unternehmer Dietrich von Boetticher die „Abendzeitung“ samt ihres Onlineauftritts übernimmt.


In seinem zauberhaften Roman „Das Glasperlenspiel“ beschreibt der Schriftsteller Hermann Hesse in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts eine Welt, in der nicht nur alle Kunst und alle Wissenschaft abgelöst ist durch die jetzt einzige Kunst des Glasperlenspiels, sondern vor allem auch die Welt der Zeitungen, wie es der namenlose Erzähler, den Hermann Hesse sprechen lässt, uns im Rückblick auf das 20. Jahrhundert als auf die Welt des Feuilletons berichtet.
Denn in der Welt der Zeitungen, so schreibt es dieser Erzähler bei Hesse, „habe“, so wörtlich, „der Geist eine unerhörte und ihm selbst nicht mehr erträgliche Freiheit 'genossen', indem er die kirchliche Bevormundung vollkommen, die staatliche teilweise überwunden, ein echtes, von ihm selbst formuliertes und respektiertes Gesetz, eine echte neue Autorität und Legitimität aber noch immer nicht gefunden hatte.“ Ich darf jetzt ganz kurz etwas ausführlicher zitieren aus diesem wunderbaren Roman: „Wir müssen nämlich bekennen“, so schreibt er weiter, „dass wir außerstande sind, eine eindeutige Definition jener Erzeugnisse zu geben, nach welchen wir jene Zeit benennen, den 'Feuilletons', nämlich. Wie es scheint, wurden sie als ein besonders beliebter Teil im Stoff der Tagespresse zu Millionen erzeugt, bildeten die Hauptnahrung der bildungsbedürftigen Bürger, berichteten oder vielmehr 'plauderten' über tausenderlei Gegenstände des Wissens. Die Hersteller dieser Tändeleien gehörten teils den Redaktionen der Zeitungen an, teils waren sie 'freie" Schriftsteller, wurden oft sogar Dichter genannt, aber es scheinen auch sehr viele von ihnen dem Gelehrtenstande angehört zu haben, ja, Hochschullehrer von Ruf gewesen zu sein. Beliebte Inhalte solcher Aufsätze waren Anekdoten aus dem Leben berühmter Männer und Frauen oder deren Briefwechsel... Lesen wir die Titel solcher Plaudereien, so gilt unsere Befremdung weniger dem Umstand, dass es Menschen gab, welche sie als tägliche Lektüre verschlangen, als vielmehr der Tatsache, dass Autoren von Ruf und Rang und guter Vorbildung diesen Riesenverbrauch an nichtigen Interessantheiten 'bedienen' halfen. Zeitweise besonders beliebt waren die Befragungen bekannter Persönlichkeiten über Tagesfragen ... zum Beispiel namhafte Chemiker oder Klaviervirtuosen über Politik, beliebte Schauspieler, Tänzer, Turner, Flieger oder auch Dichter über Nutzen und Nachteile des Junggesellentums, über die mutmaßlichen Ursachen von Finanzkrisen und so weiter ...“
Das erinnert an Anne Will und Maybrit Illner, aber natürlich auch an so manche Feuilleton-Beiträge, die man sich vielleicht hätte schenken können. Ein letzter Satz aus Hesse: „Wechselte ein berühmtes Gemälde den Besitzer, wurde eine wertvolle Handschrift versteigert, brannte ein altes Schloss ab, fand sich der Träger eines altadeligen Namens in einen Skandal verwickelt, so erfuhren die Leser in vielen tausend Feuilletons nicht nur etwa diese Tatsachen, sondern bekamen schon am selben oder doch am nächsten Tage auch noch eine Menge von anekdotischem, historischem, psychologischem, erotischem und anderem Material ... Über jedes Tagesereignis ergoss sich eine Flut von eifrigem Geschreibe.“ Soweit Hermann Hesse. Und man kann zusammenfassen, weil die ganze Kultur einschließlich der Zeitungen als Firlefanz, als verzichtbar erscheint, wird jetzt bei Hesse in der einzigen Kunst des Glasperlenspiels, eines hochartifiziellen Spiels, das wie eine mathematische Ordnung alle traditionelle Kultur ersetzt, alle Kunst, alle Medienform und auch alle Wissenschaft eingebunden. Was ist das Glasperlenspiel bei Hesse also? Ich zitiere ihn wörtlich: „Ein Spiel mit sämtlichen Inhalten und Werten unserer Kultur.“
In einem gleichsam neuplatonischen Reich aller Möglichkeiten des Schönen, also der Musik, der bildenden Kunst, der darstellenden Kunst, der Literatur, die alle übersetzt sind in die Welt des Glasperlenspiels, spielen die Menschen jetzt in einer neuen synthetischen Kultur miteinander und lassen die traditionelle Welt, wie sie sich über die Jahrhunderte entwickelte, einfach hinter sich. Wer heute diesen Roman liest, der kann kaum anders, als in diesem Glasperlenspiel, in dem immer alles gleichzeitig in eine einzige mathematische Sprache übersetzt ist, die heute wahr gewordene Welt des Internets sehen. Denn im Internet ist alle überlieferte Welt als herunterladbare Datei immer gleichzeitig und gleichförmig da. Es gibt keine Art mehr der Information, keine Art der Kommunikation, keine Kunstform, die nicht im Internet sich finden oder sogar kreieren lässt, um auf jede erdenklich Weise die User der Internetwelt zu bedienen. Alles ist vorhanden, jede Wissenschaft ist heute auf das Internet angewiesen. Künstler präsentieren sich und ihre Kunst im Medium des Internets, Musiker produzieren keine Schallplatten mehr, noch nicht einmal mehr CDs, die qualitativ bereits schlechter sind, sondern sie stellen ihre neuen Lieder einfach ins Netz und machen sie so für alle zu jeder Zeit verfügbar. Das Absetzen der Welt der Zeitung zugunsten des Glasperlenspiels Internet gipfelte vor wenigen Wochen für mich in dem Satz des Chefs der Internetredaktion des Focus, der wörtlich sagte: „In zehn Jahren wird es keine Printprodukte mehr geben, wozu auch, das macht doch in der Welt desInternets keinen Sinn mehr.“ Entscheidende Frage für uns, für unsere Zukunft: Stimmt das? Hermann Hesse gibt in seinem Roman eine ganz andere Antwort. Denn die Hauptfigur in diesem Entwicklungsroman, der auch noch Josef Knecht heißt, weil er sich völlig versklavt fühlt von dieser künstlichen, synthetischen Welt, der wird in der künstlichen Welt des Glasperlenspiels nicht glücklich und wendet sich am Ende von ihr ab, in der scheinbar völligen Freiheit des Glasperlenspiels entdeckt er mit zunehmender Dauer des Romans eine Weltfremdheit, eine Unnatürlichkeit, von der er sich lossagt. Die erste Ahnung aber, dass ein solches Glasperlenspiel, wie heute das Internet, der eigentlichen Natur des Menschen zuwiderläuft, überfällt Knecht im Gespräch mit einem zauberhaften Benediktinermönch. Denn dieser Mönch Pater Jakobus, der gibt dem Josef Knecht die entscheidende Eingebung, wenn er sagt, und das gilt ja für alle Internetuser auch: „Ihr Glasperlenspieler“, sagte der Mönch, „habt euch eine Weltgeschichte zurechtdestilliert. Ihr behandelt die Welt wie ein Mathematiker die Mathematik, wo es nur noch Gesetze und Formeln gibt, aber keine Wirklichkeit, kein Gut und Böse, keine Zeit, kein Gestern, kein Morgen, nur eine ewig flache, mathematische Gegenwart.“ Und wenn man an die ganzen User, die nächtelang vor den Schirmen sitzen, denkt, in ihrer flachen Bildschirmgegenwart, so scheint Hermann Hesse hier fast schon eine prophetische Aussicht gegeben zu haben. Es ist eben keine Wirklichkeit, sondern eine flache Gegenwart, was die Bildschirmwelt des Internets zu bieten hat. Eine Welt, die alle Lebensrhythmen, alle Tages- und Jahreszeiten in sich einzuschmelzen droht und die damit den Bedürfnissen von uns Menschen zuwiderläuft.
Vor Kurzem habe ich mit meinem Freund, dem Abt Marianus aus Niederaltaich, einen schönen Abend verbringen dürfen. Und der Vortrag, den Marianus damals gehalten hat, der war einer, der gesagt hat, unsere Zeit hat ein Tempo entwickelt, das keine Rhythmen, kein Atmen, kein Einatmen, kein Ausatmen mehr möglich macht und er hat es auch unter anderem mit dem Internet zusammengebracht und einen schönen Begriff geprägt, indem er gesagt hat: „Wir Menschen brauchen eigentlich eine gespannte Seele.“ Und der Begriff der gespannten Seele bedeutet, dass eine Seele ruhen darf, dass sie aufwachen darf, dass sie in der Früh die Morgenzeitung lesen darf und abends vielleicht sich bei einem guten Gespräch findet. Aber dass Menschen, die nur noch in den Bildschirm schauen, diese gespannte Seele eben verlieren, das wäre auch psychotherapeutisch ein Befund, den man als Therapeut stellen könnte.
Der Begriff der gespannten Seele trägt: Morgenlektüre oder auch ein Morgengebet, abends ein Glas Wein mit den Freunden oder ein gutes Buch; darum geht es und nicht um zeitloses Dauersurfen im Internet. Die Auflösung aller guter und gewohnter Lebensrhythmen in der digitalen Welt läuft doch unserem menschlichen Maß zuwider. Wir brauchen eher die berühmte Periodizität von Informationen, das heißt, die Zeitung erscheint eben sechs Mal die Woche, immer morgens um fünf Uhr liegt sie im Briefkasten und nicht um zehn Uhr schon wieder. Wir brauchen also eine Welt, in der wir vielleicht gar nicht beständig regelrecht überfallen werden von neuen Informationen, die am Ende sich für uns als gar nicht wichtig erweisen können. Von der Zeitung aber bis zu den Abendnachrichten, im BR oder im ZDF, müssen wir ja unserem Tag und unserem Leben einen Rhythmus, einen Atem geben, der uns dann dieses Leben, unser einziges Leben, wirklich spüren lässt. Die Allgegenwart von Kommunikation im Internet aber dient doch nicht so sehr einer echten Lebenserfahrung oder einem echten Gespräch von uns miteinander und untereinander und auch nicht der Selbstgewahrwerdung im Akt des Lesens, sondern sie bedient doch allzu häufig nur Muster der Selbstentfremdung, ja der Dauerablenkung von uns selbst. Mit einem wunderbaren Bild sprach deshalb vor wenigen Wochen der Feuilleton-Chef des nicht abgeschafften Feuilletons der FAZ, Frank Schirrmacher, vom Lesen der Zeitungen und Bücher als einer zunehmend „wichtigen Insel von therapeutischem Wert in einer zunehmend digitalisierten Welt“.
Zusammenfassend: Zeitungen, unsere Printkultur also, haben anthropologisch, also was das eigentliche Wesen des Menschen angeht, eine Bedeutung, die wir vielleicht nur deshalb nicht genügend schätzen, weil wir kulturell schon zu viel von dieser Bedeutung preisgegegeben haben.
Ein zweiter und letzter Punkt. Ich möchte einleiten mit einem kleinen, sehr liebenswürdigen Zitat aus einem frühen schönen Drama von Hugo von Hofmannsthal mit dem Titel „Gestern“. Und da sagt in diesem Drama der jugendliche Liebhaber Andrea: „Musst du mit Gestern stets das Heute stören, muss ich die Fessel immer klirren hören, die ewig dir am Fuß beengend hängt, wenn ich für mich sie tausendmal gesprengt. Das Gestern lügt, und nur das Heut' ist wahr, lass dich von jedem Augenblicke treiben, das ist der Weg, dir selber treu zu bleiben.“ Man soll es mit solchen Lebensführungen nicht unbedingt übertreiben, aber im Prinzip ist es ein Thema, das die Philosophie im Rahmen ihrer Bewusstseinsphilosophie sich genauso stellt. Die Philosophie stellt nämlich die Frage in Anbetracht der Länge unseres Lebens, wo sich alles erneuert, unsere Lebensverhältnisse, unser Körper, unsere Zellen alle sieben Jahre, die Frage, ob bei einem Menschen, bei dem wie bei einem Fahrrad erst die Kette gewechselt wird, dann das Blech, dann die Reifen, ob dieses Fahrrad am Ende noch dasselbe ist wie am Anfang. Ein Niederbayer würde sofort sagen, „so a Fahrrad gibt's gar net, des hau ma vorher weg, des Fahrrad is kaputt.“ Da zeigt sich, dass bestimmte Fragestellungen in der Philosophie kontraintuitiv sind, aber es gibt in der Philosophie auf diese Fragestellung trotzdem eine wunderbare Antwort. Die Philosophie sagt nämlich, in der Erinnerung seiner Selbst ist der Mensch in jedem Wandel, den er durchläuft, trotzdem in sich selbst in seiner Memoria für sich identisch. Er mag Tausend Personen, Tausend Rollen nach außen darstellen, weil er seiner Selbst ein Leben lang bewusst ist, kann er sich in seiner Erinnerung seiner Selbst versichern und bei allem Wandel seiner Selbst geht seine Identität auf diese Weise nicht verloren.
Wir brauchen also die Erinnerung. Wir brauchen aber diese Erinnerung, und das wissen wir auch aus der Psychologie, wir brauchen diese Erinnerung nicht nur individuell. Wir sind auch aufgerufen, uns gemeinsam zu erinnern, ein gemeinsames Bewusstsein unseres Heimatraumes, in dem wir leben, aufzubauen und zu bewahren. Ich gebe ein Beispiel: Ich war nicht wirklich in Südtirol, wo ich immer Urlaub mache, wenn ich nicht dort teilgenommen habe an der Selbstwahrnehmung der Südtiroler in ihrer zauberhaften Heimatzeitung „Dolomiten“. Wenn ich nicht einen Blick dort auf die Todesanzeigen, die zuletzt verunglückten Kletterer in den Südtiroler Bergen geworfen habe, das letzte Eishockeyergebnis der „Rittner Buam“ gesehen habe oder auch nur die Veranstaltungshinweise für die nächste Woche gelesen habe. Auch wenn ich nirgends hingehe, ein Heimatraum, in dem nicht unser aller Lebensweg von einer Heimatzeitung mitverfolgt und begleitet wird, der verliert buchstäblich an Raumqualität. Eine Heimatzeitung hilft den Raum zu spannen, den Heimat bildet. Sie bildet ihn eben nicht nur beschreibend und passiv ab.
Vom täglichen Stadtgeschehen bis zu den Heirats- und Todesanzeigen entstehen Räume, die als Heimat erlebt und erfahren werden. Heimatbewusstsein hat mit Heimatzeitungen zuinnerst zu tun. Und eine solche Chronistenpflicht, wo wir uns unserer selbst täglich gewahr werden, leistet die digitale Welt in keiner Weise. Wert und Würde des gedruckten Wortes sind eben nicht nur eine Floskel, sondern sie sind für ein funktionierendes Heimatgeschehen aus meiner Sicht unverzichtbar und unersetzbar. Digitale Todesanzeigen mögen ein interessantes Geschäftsmodell sein, der Nachricht in der Zeitung aber, dem erinnernden Nachruf, sind sie in keiner Weise ebenbürtig, denn sie fangen den Wert des gelebten Lebens nicht ein.

(Foto: Sebastian Haas/Akademie für Politische Bildung Tutzing)

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